5, Phantasie und Realismus in den Märchen

Zeus, Hera und der/die Große Bär/in; Dornröschen in der altfranzösischen Fassung wird mehr als Wachgeküsst; Aschenputtel und die versteckte Erotik; die grausamen "Kinder und Hausmärchen" der Grimms; die faszinierende Reise der Scheherazade mit ihren (keinesfalls Tausendundeinen) Erzählungen von Indien bis Europa; die Erotik in den Erzählungen: skurril, grob, abenteuerlich. Formen, Interpretationen und Inhalte. Schließlich Michael Endes "Momo" und "Die Unendliche Geschichte".

Die Märchen sind zweifellos älter als die für uns bekannten mittelalterlichen Gemälde. Für ihr grundsätzliches Verständnis ist es wichtiger, als man gemeinhin denkt, die Zeit und das Leben ohne Computer, Fernsehen, Kino, Radio, Telefon und Zentralheizung vorzustellen.
Von den Altertumsforschern wissen wir, dass Jäger-und-Sammler- und Nomaden-Kulturen täglich etwa vier Stunden "gearbeitet" haben. Der Rest, von der Zeugung, Geburt über Auseinandersetzung miteinander und anderen Sippen, bis zum Tod, war soziales Leben. Natürlich auch reden, die Sterne beobachten und das eigene Familienleben in den Himmel projizieren und darüber erzählen. In Griechenland über Gottvater Zeus etwa, der seine Hera betrog und von der auch noch erwischt wurde. Also verwandelte er die hübsche Geliebte flugs in einen Schwan. Eine lustige Idee! Doch Hera war unheimlich wütend und machte die Geschichte noch dramatischer: Sie verwandelte den immer noch eleganten Vogel in eine große Bärin (lateinisch: Ursa Major; Bär ist die falsche Übersetzung). Und wie wenn das nicht genug gewesen wäre, nagelte sie an eine Stelle des Himmels, von wo die arme niemals den Horizont – und somit das Meer – berühren konnte. Und in Griechenland kann es im Sommer auch heute recht heiß werden.

So erzählte man sich dies und ähnliches über die Jahrtausende – immer weiter, immer ein wenig anders. Spätestens vom 14. Jahrhundert ab schrieb man in Europa die Geschichten auf, an einigen Stellen der Erde natürlich schon früher. So auch die von Dornröschen, der 15-jährigen Prinzessin, die sich an einer Spindel verletzte und dadurch, zusammen mit Vaters Hofstaat, in einen längeren, tiefen Schlaf fiel. Das Schloss wurde von einer Dornen- später einer Rosenhecke umwuchert. Immerhin, nach 100 Jahren gelang es einem Prinzen, die Hecke mit seinem Schwert (!) zu durchschneiden und die (seltsamer Weise nicht gealterte) Prinzessin wach zu küssen. Darauf erwachte auch der ganze Hofstaat – und es wurde mit großem Pomp geheiratet. In der altfranzösischen Fassung von 1330 und auch in der katalanischen von 1350, wird die Prinzessin beim Wachküssen auch geschwängert.

Und da aus kleinen Mädchen auch schon früher große Mädchen wurden, mag das Märchen das Erwachsenwerden zum versteckten Thema haben. Dafür braucht man manchmal auch heute einen Prinzen, der um die Jungfrau gegen deren verschlafene Familie kämpft. Dass sie in den ältesten Fassungen gleich geschwängert wurde, zeigt vermutlich die freiere Haltung zur Sexualität. So gab es im islamischen Andalusien die Probeehe – und keinen Zirkus um die Jungfraulichkeit. Heute beeilen sich die Moralaposteln, uns zu versichern, dass die grausamen und obszönen Märchen mit schockierenden Wendungen, nicht für Kinder, sondern von erwachsenen Märchenerzähler für Erwachsene Zuhörer ausgedacht wurden. Allerdings wissen wir von Geschichtsforschern, dass die Kinder in der damaligen Zeit nicht gerade weit von den Erwachsenen lebten – bestenfalls schliefen sie.

Das deutsche Wort "Märchen" stammt von Mittelalthochdeutsch "Märe" ab. Darunter verstand man Nachricht, Kunde, Erzählung, Gerücht. Also allerlei Phantasievolles. Mär-chen sind also "kleine Gerüchte", kurze Erzählungen.

Anfang des 19. Jahrhunderts wollte der Dichter Clemens Brentano (1778 – 1842) ein Märchenbuch herausgeben, in Zusammenarbeit mit Wilhelm Grimm (Sprachwissenschaftler 1786 – 1859) und seinem Bruder Jacob (Sagen- und Märchensammler 1789 – 1863). Seine kleine Gruppe, dazu hilfsbereite Studenten, suchte und fand Texte in der Barockliteratur (ca. 1575 bis ca. 1780), bei Sammlungen der französischen Aufklärung (ca. 1790), bei Hans Sachs (Dichter und Schuhmacher 1494 – 1576), Martin Luther (Mönch und Kirchenreformator 1483 – 1546) und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (Schriftsteller des Barock 1622 – 1676). Die Sammler wurden auch bei Erzählern fündig, die das Erbe ihrer Großmütter und deren Großmütter noch mündlich vortrugen.
Doch als die Anthologie im Dezember 1812 in Berlin erschien, wurde sie eine Enttäuschung. Erst als Wilhelm Grimm die wissenschaftlichen Erklärungen seines Bruders Jakob herausstrich, die Märchen der verklemmten Zeit und Erziehung gerecht redigierte, vor allem aber die Texte mit bunten Zeichnungen illustrierte – wurden die "Kinder- und Hausmärchen" ein Erfolg. Ein großer.

Die Inhalte sind bemerkenswert: Da ist der kleinste, oft auch der dümmste, Bruder der durch Glück oder List, die Hand einer Königstochter bekommt "und das halbe Königsreich dazu". Andere müssen erst "in die Welt hinaus" (wie heute "Wirtschaftsflüchtlinge") bevor sie zu Hause ihr Glück machen. Die Mädchen, ohne Staubsauger, Spül- und Waschmaschine, sind in den Märchen und im wirklichen Leben besser fleißig und bescheiden.
Wie "Aschenputtel". Und nicht wie ihre faulen, eitlen Stiefschwestern. Dazu eine kleine, versteckte symbolisch-erotische Andeutung; womöglich aus dem Französischen Fassung übernommen und übersehen: Den bösen Stiefschwestern passt, bei einer gestrengen Prüfung durch den Prinzen, Aschenputtels kleiner, enger Schuh (?) nicht. Sie hat ihn beim Ball verloren, wohin sie sich eingeschlichen, einmal mit dem Prinzen getanzt und dann verschwunden ist. Freilich sucht sie der Prinz fieberhaft, findet sie auch, die zwei sind glücklich und heiraten. Bei den Grimms gibt es auch eine Hochzeit, doch auf dem Gang zur Kirche werden den Stiefschwestern die Augen von zwei Tauben ausgestochen. So sah damals die "Für Kinder gereinigte Fassung" aus: Eine pauschale Strafandrohung an alle älteren Geschwister, von denen die meisten den Kleineren wohlgesonnen waren. Erstaunlich! Oder? Umso erstaunlicher, als in der älteren, französischen Fassung, 1697 von Charles Perrault aufgeschrieben, Cendrillon/Aschenputtel ihren Tiefschwestern verzeiht. Sie werden sogar mit Edelleuten gut verheiratet.

Mein Lieblingsmärchen gerade für Kinder ist Des Kaisers neue Kleider vom dänischen Autor Hans Christian Andersen (erschienen im April 1837 in der Sammlung Märchen für Kinder erzählt; ursprünglich aus dem maurischen Spanien von 1335). Darin überreden zwei Betrüger einen Kaiser, bei ihnen, für viel Geld, neue, wunderbare Kleider nähen zu lassen – die allerdings nur kluge Menschen sehen können. Tatsächlich lobt der ganze Hofstaat die unsichtbaren Kleider. Erst beim Festzug durch die Stadt ruft ein Kind: "Der Kaiser hat ja nichts an!" Eben! Eitelkeit, Betrug und die unverdorbene Klarsicht eines Kindes sind die wichtigen Themen des Märchens – die auch heute gültig sind.

Ein Wort zur abenteuerlichen Reise der Scheherazade/Schahrasad - und ihrer Tausendundeinen Erzählungen: Ich hätte gern die Umschrift Schahrasad der Arabistin und Übersetzerin, Claudia Ott, übernommen. Allein, ich hatte Angst, die Leser mit dem ungewohnten Namen ständig zu stören. So bin ich bei Scheherazade geblieben.

Und noch ein Wort: Die Rahmenhandlung um die Geschichten-Erzählerin ist Urmutter aller Fortsetzungsromane, Artikelserien ob "Sherlock Holms", "Tatort" oder "Ein Herz und eine Seele".

Den Beginn der Erzählung entnehme ich aus "101 Nacht". In der Literaturwissenschaft nennt man es die "Kleine Schwester" von "Tausendundeine Nacht". Diese "Andalusische Handschrift" aus dem Jahr 1234 wurde von der Arabistin Claudia Ott 2010 im Aga Khan Museum in Cordoba gefunden und ins Deutsche übersetzt. Sie, die Rahmenhandlung, entspricht weitgehend der ersten arabischen Handschrift von "Tausendundeine Nacht" die von Muhsin Mahdi im 15. Jahrhundert herausgegeben wurde (Übersetzung ebenfalls Frau Ott).

Endlich: Die Geschichte von König Schachrayar und der Tochter seines Großwesirs, Scheherazade – mit Fragen und Einschüben für denkende Leser von Ihrem Autor, P.P.M.

Schachrayar, König einer unbenannten Insel zwischen Persien und China, ist tief beleidigt durch die Untreue seiner Frau. Er tötet sie. Anschließend befiehlt er seinem Großwesir (Premierminister), ihm jede Nacht eine Jungfrau zu bringen, die er heiratet und am nächsten Morgen umbringt. Als die Töchter der Großen und Wichtigen seines Hofstaates tot sind, sagt der König dem Großwesir: "Gib mir deine Tochter zur Frau!" "Jawohl, mein Gebieter", antwortet der Großwesir, "sie ist deine Magd, zusammen mit ihrer Schwester. Heute Nacht bringe ich sie dir."
Und als die Nacht hereingebrochen war, führte der Großwesir seine Tochter (nur eine?) in den Palast des Königs. Der Vereinigte sich mit Scheherazade und verbrachte mit ihr die Nacht, wobei er sein begehren an ihr stillte. Dann wollte er sie töten.
Sie aber sagte: "Mein Fürst! Wenn du mich bis zur nächsten Nacht leben lässt, erzähle ich dir eine Geschichte, die du ganz bestimmt noch nie gehört hast." Der König war einverstanden. Er verließ das Gemach, versiegelte die Tür und ging zu seinem Regierungssitz. Wo die Schwester Scheherazades in dieser Nacht war und was sie tat, erfahren wir nicht. Von Danisad lesen wir erst in der zweiten Nacht, als endlich die Erzählungen beginnen:
In der folgenden Nacht kam der König wieder, brach das Siegel auf, trat ins Gemach und schlief mit dem Mädchen – vermutlich mit Scheherazade. Dann aber rief ihre Schwester: "Erzähle doch unserem Herrn, dem König, deine schönen Geschichten! (Warum wohl in der Mehrzahl? Ahnte sie, zumindest hoffte sie, dass es etwas mehr als eine Geschichte sein werde?) So erzählt Scheherazade eine Geschichte, die sie im Morgengrauen an der spannendsten Stelle abbricht. Schachrayar ist so gespannt, so neugierig auf den Schluss, dass er Scheherazade wieder nicht tötet. Und in der dritten Nacht auch nicht. Die Erzählung immer noch nicht zu Ende – und bald fehlt der Schluss eines neuen Abenteuers. So kommt sie wieder und wieder mit dem Leben davon. Die Schwester Dinarasad verbindet eine Nacht mit der anderen, indem sie im Morgengrauen sagt: "Wie schön und spannend ist deine Geschichte!"
Worauf die Erzählerin antwortet: "Was ist das schon gegen das, was ich Morgen erzählen werde, wenn ich dann noch lebe, wenn mich dieser König verschont." Allerdings hat die junge und, wie wir annehmen möchten, zauberhafte Scheherazade nicht nur erzählt. Denn in den knapp drei Jahren hat sie drei Kinder zur Welt gebracht. Und schließlich gewährt ihr König Schachrayar Gnade – wofür eigentlich?

In diesem archaischen Rahmen, in dem ich keinen tieferen Sinn entdecken kann, steckt ein Sammelsurium an Abenteuern, Zaubereien, Verwünschungen, groben erotischen Geschichten, Tragödien, Komödien, religiösen Legenden. Die Rahmenhandlung selbst und einige Fabeln weisen auf indischen Ursprung hin – vermutlich aus dem Jahr 250 n. Chr. Das älteste erhaltene indische Fragment datiert auf 850 n. Chr., das "Chicagoer Fragment".
Ums Jahr 500 n. Chr. wurden einige Erzählungen vom Indischen ins Mittelpersische übersetzt und um persische Märchen erweitert. So bekam auch der persisch-sasadinische Großkönig Chosran I. eine hübsche Rolle. Später wurden Elemente aus griechischen Sagen (Odyssee) aufgenommen. Vermutlich im 8. Jahrhundert entstand die erste arabische Übersetzung mit islamischen Formeln und Zitaten angereichert. Im 11. und 12. Jahrhundert kamen phantastische ägyptische Geschichten hinzu – dafür wurden andere entfernt.
Der Orientalist Antoine Galland (1646 – 1715) publizierte 1704 seine französische Übersetzung und erweiterte die Sammlung mit arabischen Texten, die er vermutlich von einem syrischen Märchenerzähler in Paris gehört hatte: So "Aladin und die Wunderlampe", "Sindbad der Seefahrer", "Ali Baba und die 40 Räuber".

Wie viele Nächte? Wie viele Märchen? Der einigermaßen umfassende arabische Text, den Galland 1701 gekauft hat, die so genannte "Galland-Handschrift", enthält die Erzählungen von der ersten bis zur 282. Nacht, und bricht ab (diese Handschrift befindet sich heute in der Französischen Nationalbibliothek in Paris). Im Jahr 2010 fand die Orientalistin Claudia Ott in der Tübinger Universitätsbibliothek die Fortsetzung. Sie beginnt tatsächlich mit der 283. und endet mit der 542. Nacht.
Wenn man freilich die Märchen eines um das andere liest, wird einem klar, dass es gar nicht tausend sein können – wenn Scheherazade überhaut 1001 Nächte lang erzählt hat. Denn sie hört ja in der Morgendämmerung – mitten in einer Geschichte – auf, und in der folgenden Nacht, nach dem der König das Siegel der Tür aufbricht, sich wieder mit ihr vereinigt, sein Begehren an ihr stillt, berichtet sie weiter von derselben Stelle an, wo sie aufgehört hat. Zwar wiederholt der König anfangs, dass die Erzählung nun sein Ende haben möge, aber Scheherazade ist entschlossen, am Leben zu bleiben, ist zweifellos eine gute Erzählerin – und der König gewöhnt sich mit den Nächten an ihren Rhythmus und kann sie nicht aufgeben. Ob tausend Nächte oder nicht (was hat sie nur am Tag gemacht?), allein die Rahmenhandlung ist enorm erfolgreich: als Märchen, Theater, Ballett, Film, Operette, Musical, Hörspiel.

Die erste, eigentlich zweite, Nacht: Bemerkenswerter Weise findet man unzählige Quellen mit der Beschreibung der Rahmenhandlung, aber verhältnismäßig wenige mit den Märchen selbst (von den Galland hinzugefügten Ali Baba und die anderen Räubergeschichten einmal abgesehen). Hier also die Kurzfassung der Erzählung der ersten (und zweiten und dritten) Nacht, nach der ältesten arabischen Handschrift von Muhsin Mahdi aus dem 15. Jahrhundert. Wegen ihrer zauberhaften Diktion – die nach Sandelholzöl auf der leicht verschwitzten Haut einer jemenitischen Küchenmagd duftet – zitiere ich wieder mit Handkuss die Arabistin Claudia Ott mit dem Anfang der ersten Erzählung (zum Inhalt, meinen Fragen und Zweifeln kommen wir anschließend).

Der Kaufmann und der Dschinni (männlicher Dämon): Scheherazade sagte: Die Leute behaupten, o glücklicher König und Herr des rechten Urteils, dass es einmal einen Kaufmann gab, der reich und wohlhabend war, ein großes Vermögen und viele Sklaven besaß. Er hatte eine ganze Anzahl von Frauen und Kinder außerdem Bürgschaften und Kredite im ganzen Land.
Er zog eines Tages aus, um in ein anderes Land zu reisen. Er bestieg also ein Reittier und packte unter sich eine Satteltasche mit saurem Gemüse und Datteln als Wegzehrung. Dann reiste er Tage und Nächte, bis Gott ihn wohlbehalten am Ziel seiner Reise ankommen ließ. Dort erledigte er seine Geschäfte, o glücklicher König, und machte sich dann auf den Rückweg in sein Land und zu seiner Familie. Er reiste drei Tage lang. Am vierten Tag kam eine große Hitze auf, die die Erde völlig versengte. Da sah er nun vor sich eine Plantage (nicht besser Oase?), ritt auf diese zu, um dort Schatten zu suchen. Er gelangte an einen Nussbaum, unter dem eine frische Quelle sprudelte. An der Quelle ließ er sich nieder, band sein Tier fest, lud die Satteltasche ab, entnahm ihr etwas von dem eingelegten Gemüse, das er als Wegzehrung dabei hatte, sowie einige Datteln. Er begann die Datteln zu verspeisen (und das Gemüse?) und warf die Dattelkerne nach rechts und links von sich, bis er fertig war. Dann stand er auf, reinigte sich und betete.
Erst als er sich beim Gebet zum Gruß umblickte, bemerkte er einen alten Dschinni (einen männlichen Dämon, wie Du dich wohl erinnerst, o, Du glücklicher Leser). Seine Füße standen auf der Erde, sein Kopf aber ragte bis in die Wolken, und in seiner Hand hielt er ein gezücktes Schwert. Der Dschinni kam heran, bis er direkt vor ihm stand (freilich höchstens seine Füße). "Steh' auf, damit ich dich töte mit diesem Schwert, so wie du meinen Sohn getötet hast!" brüllte er ihm entgegen… Soweit das Zitat aus der Übersetzung von Claudia Ott.
Nach einigem Palaver stellt sich etwas Seltsames heraus: Nämlich dass der reisende Händler, als er nichtsahnend die Datteln aß und die Kerne um sich warf, den unsichtbaren Sohn des großen Dschinni mit einem der Kerne tödlich am Kopf traf, als der dort vorbeispazierte. Der starb denn auch augenblicklich – wie es sich nach einem tödlichen Treffer gehört. Der große Dschinni ist außer sich. Der Kaufmann versucht sich zu verteidigen, aber es hilft nichts. Der Dschinni holt mit seinem Schwert aus… Doch da erscheinen die ersten fahlen Strahlen des morgendlichen Sonnenlichts und Scheherazade unterbricht ihre Erzählung.
In der dritten Nacht erfährt König Schahriyar, dass es dem Kaufmann gelingt einen Aufschub auszuhandeln. Er verspricht, pünktlich in einem Jahr, nachdem er sich von seiner Familie verabschiedet und seine Geschäfte für die Ewigkeit in Ordnung gebracht hat, wieder am Nussbaum zu erscheinen um seinen Kopf abschneiden zu lassen… Und es dämmert wieder. Danisad lobt die Erzählung, Scheherazade verweist auf die Fortsetzung, der König erhebt sich, versiegelt wieder die Tür, und alle gehen schlafen.
In der vierten Nacht berichtet Scheherazade weiter, dass der Dummkopf von Kaufmann tatsächlich unter dem Nussbaum sitzt und auf seine Hinrichtung wartet. Obendrein verspätet sich der Dschinni. Stattdessen erscheinen drei alte Männer nacheinander und als der Dschinni auch endlich ankommt, handeln die Alten mit ihm aus, für ihre – herzzerreißend schöne und abenteuerliche –, Erzählungen dem Kaufmann seine Sünde zu vergeben. Es beginnen also nacheinander drei Geschichten in der Geschichte, die Nächte gehen und kommen wieder und wieder und wieder.

Die Struktur der Märchen, die Wiederholungen, Formeln, die Auslassungen – und ihre Bedeutungen

Die Ähnlichkeiten zwischen den arabischen und europäischen Märchen sind faszinierend – vermutlich ist dies das arabische Erbe aus dem Orient, womöglich aus dem islamischen Andalusien 711 bis 1492 – eine lange Zeit.
Die Deutschen Märchen beginnen bekanntlich mit "Es war einmal…" (auch die französischen…) ein König, ein armer Mann oder was auch immer. Im Ungarischen ist es auch nicht gerade informativ, dafür sind es mehr Wörter: "Einmal war es, wo war es nicht, hinter sieben mal sieben Ländern, oder Bergen, oder dem großen Ozean (Óperenciás tenger).
Zwischen den Zeilen sagt das Märchen freilich: Ich weiß nicht recht wo; wie weit von hier; wann es passiert ist. Ich sag's nicht woher ich das ganze habe; möglicher Weise ist es gar nicht wahr. Die Inhalte – mit Glück wird der Dümmste König (da ist freilich etwas dran); bescheidene Mädchen kriegen einen Prinzen (da ist zumal heute weniger dran). Aber das hatten wir weiter oben schon.
Die europäische Schluss-Formel – "Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute" – ist eigentlich nackter Hohn. Denn natürlich sind sie gestorben, wenn sie je gelebt haben, und mit ihnen die letzten möglichen Zeugen der Wahrheit/Realität. Oder: Die Erzählung, gibt sich allgemeingültig. Sie will sagen: Meine spärlichen, einfachen Aussagen/Inhalte sollen genügen. Sie sind ewig. Sie bleiben, auch wenn die Protagonisten bereits tot sind. Aber: Muss man die böse Hexe in "Hänsel und Gretel" lebendig rösten? Muss der Magen des Wolfes in "Rotkäppchen", mit Steinen gefüllt, zugenäht werden? Muss man Auge mit Magen rächen?

In den arabischen Märchen geht es nur ein wenig anders zu: archaischer aber kaum gröber – Tochter her, erst das Vergnügen, dann der Mord – das freilich (zumindest oft) in nach Rosen duftenden Gärten, Palästen, in Samt und Seide verpackt geschieht. Die Anfangsformel, die auch innerhalb der Erzählung wiederholt wird, heißt meist: "Man sagt…" oder "Die Leute sagen…".
In einigen Märchen wiederum wird explizit von dem und dem Händler, so und so, aus Bagdad oder von woanders gesprochen. Wir erfahren, dass viele Protagonisten Handel treiben, zumindest die Reichen mehrere Frauen und Kinder haben, dass die Menschen Datteln essen – wer hätte das gedacht? "Der Kaufmann und der Dschinni" strotzt freilich vor Auslassungen: In welchem Land, und dort wo wohnt der reiche Händler mit den vielen Sklaven und Frauen? Womit handelt er? Wohin reist er und warum ganz allein? Es gibt doch Räuber in der Wüste. Hat er als Wegzehrung nur das sauer eingemachte Gemüse und die Datteln mitgenommen? Und das für einen Drei-Tages-Ritt (das wird zwar auch nicht gesagt, aber vermutlich ist er zu Pferde gereist)? Und für das Tier? Wo hat er an seinem Zielort, wo er was für Geschäften nachging, geschlafen? Was gegessen? Unzählige Fragen. Schlimmer noch, hier fehlen Bilder, fehlen Farbtupfer der Einzelheiten, fehlt leise Unterhaltung.
Ich als Zuhörer, hätte ständig nachgefragt. Und ich gebe zu, ich wundere mich ein wenig, dass dieser lieblose, grobe König, der vermutlich schon einige Meister der Erzählkunst gehört hat, Scheherazade in der zweiten Nacht (als sie mit ihrer Erzählung begann) nicht umgebracht hat. Sie muss andere Begabungen gehabt haben. Oder? Denn ihre Geschichte konzentriert sich zu sehr auf den wütenden Dämon, den Dschinni, der so groß ist, dass sein Kopf in den Wolken steckt – also etwa 800 Meter, über den Kopf des Reisenden. Man stelle sich allein seine Füße vor! Er hat wohl ständig aufpassen müssen, dass er den namenlosen Händler, samt seinem eingemachten Gemüse, nicht zertritt. Und dann so viel Palaver über die weggeworfenen Dattelkerne! Und überhaupt!
Was soll der Sinn der Rahmenerzählung sein? Etwa dass mit ihrer Geduld und Hingabe Scheherazade das harte Herz des bösen Königs erweicht hat? Das passt für mich weder zum Ganzen noch zu Teilen der Geschichten von Scheherazade. Ich glaube eher, er hat sich an sie gewöhnt, wie an eine zahme Gazelle. Sie waren täglich zusammen. Sie hat in der Zeit drei Kinder geboren – obwohl das für ihn eher hinderlich gewesen sein mochte. Ich stelle mir vor, es gibt Männer, die aus tiefem Hass und Groll eine Frau töten können, mit der sie einmal zusammen waren. Aber nicht eine, die man 1001 Nacht in den Armen gehalten hat. So denke ich jedenfalls, wenn ich versuche einfach und logisch zu denken.
Und damit sind wir auch schon beim Thema, was uns heutige Leserinnen und Leser nicht nur beim logischen sondern auch beim gefühlsmäßigen Verstehen und Nachfühlen dieser uralten Texte hindert: Wir können uns das Leben damals, das anders hart war als das Heutige, nicht vorstellen. Nicht die Freuden, nicht das Leid, nicht die Tricks und die Schliche. Zudem fehlt uns die Sippengemeinschaft der Zuhörer. Das Zirpen der (arabischen) Grillen. Der Nächtliche Schrei der Schakale in der Wüste. Das offene Feuer im Freien, wenigstens im Kamin. Und für uns heutige erwachsene Menschen, die geborgene Kindheit. Eine rundliche Großmutter mit einer melodisch-weichen Stimme: "Jetzt aber, Kinder, wird geschlafen!"

Und noch eine Kleinigkeit vor dem Finale. Der mögliche Inhalt von "Der Kaufmann und der Dschinni": Was bitte verkörpert der männliche (!) Dämon? Doch wohl die Angst vor etwas Großem, Unbekanntem, Bösem. Womöglich etwas so Mächtigem, vor dem man sich, auch als reicher Mann, nicht verstecken kann?
Ist das vielleicht die Projektion des Königs Schachrayar in der ersten (!) Erzählung, was der von Eitelkeit und Hass verblendete König nicht merkt?

Die Erotik in den Tausendundein Erzählungen: skurril, grob, abenteuerlich. Etwa so: Der jungfräuliche Nur-ed-Din ist unsterblich verliebt in seine Sklavin Zumurrud, die allerdings von Räubern entführt wurde. Er sucht und leidet und sucht sie. Dabei trifft er den Jüngling Aziz –, und es beginnt die erste Geschichte in der Geschichte –: Aziz, hat wegen einer geheimnisvollen, grausamen Frau den Verstand verloren, und vernachlässigt seine eigentlich heiß geliebte Verlobte. Doch weil sie ihn sehnsüchtig liebt, stirbt sie an der Verzweiflung. Und dass, bevor Aziz seinen Verstand wieder findet.
Aber Nur-ed-Din sucht weiter und – die zweite Geschichte in der Geschichte beginnt –: Er trifft auf seiner Wanderung Shazaman. Der wurde von einem Dämon in einen Affen verwandelt, und kann nur durch das Opfer einer Prinzessin (etwa ewige Keuschheit?) seine menschliche Gestalt wieder erlangen. Wir hoffen für ihn das Beste! Aber endlich findet der jungfräuliche Nur-ed-Din seine geliebte Sklavin Zumurrud, und das sogar in einem Palast. Oberndrein als die wichtigste Person im Märchenreich. Allerdings ist sie nicht die Königin sondern der König. Sie ist ein Mann geworden (ob dergleichen manchmal bei Frauen von auch heute vorkommt?) Doch diese Kleinigkeit hindert Nur-ed-Din nicht, sie so zu lieben, wie sie ist – eben als einen Mann.

Im Märchen von "Hasan und Samira" gibt der große und auch zwischen den Beinen stark gebaute Prinz Hasan seiner Mutter an deren Sterbebett ein Versprechen. Er wird die Frau heiraten, die er bis zu ihrem Herzen ausfüllen kann – wenn sie und er das wenigstens im übertragenen Sinn gedacht hätten. Aber nein, er sucht tatsächlich ein passendes Opfer. Das dauert ein Jahr und ist abwechslungsreich. Endlich findet Hasan eine kleine schöne, obendrein Prinzessin, die er heiratet. Und tatsächlich geschieht in der Hochzeitsnacht das schauderhafte, anatomische Wunder. Sein Glied erreicht ihr Herz, worauf sie mit dem hellen Schrei eines Vogels in die Ewigkeit entfliegt. Ist das erotisch? Phantastisch? Hat die Erzählung einen Sinn? Einen Inhalt?

Zum Schluss die zarte, versteckte erotische Frage zur Rahmenhandlung der "Tausendundeine Nacht". Sie ist nie gestellt und so auch nie beantwortet worden. Sie zeigt allerdings, wie wenig mitfühlend die vielen Autoren mit der etwa 15- oder 16-jährigen Scheherazade gewesen sind.
Du erinnerst Dich, o, Du glücklicher Leser, an die zweite Nacht, als die Erzählungen beginnen: Der König kommt, nachdem er aufgehört hat zu regieren und (vermutlich) etwas gegessen hat, an Scheherazades Gemach. Er bricht das Siegel an der Tür auf. Tritt ein (zieht sich vermutlich aus). Vereinigt sich mit ihr. Stillt sein Begehren an ihr.

Und? Ist das alles? Was ist mit der Heldin der Erzählung? Wie fühlt sie sich bei der "Vereinigung" am ersten Tag nach ihrer Defloration? Und in welchem Zustand ist ihr Jungmädchenkelch? Etwas ramponiert vermutlich, zumal durch die frischen königlichen Verletzungen. Und ihre Schwester Dinarasad, die ständig anwesend war? Wie ist es ihr ergangen bei alledem? Wir werden es nie erfahren.

Märchen aus unserer Zeit im Vergleich mit denen aus "Haus- und Kindermärchen" der Gebrüder Grimm:

Michael Ende (1929 – 1995) und sein Märchenroman "Momo" (erschienen 1973).
Das arme kleine, etwa zehn Jahre alte, Mädchen, das irgendwo in Italien in der Ruine eines Amphitheaters lebt, von den ebenfalls armen Nachbarn ernährt wird, hat viel Zeit und viele Freunde. Darunter einen Straßenfeger, eine Schildkröte und Meister Hora, den Verwalter der Zeit. Sie zusammen retten die Welt vor den grauen Herren der Zeit-Spar-Kasse, die durch ihre Zeit-Spar-Pläne bereits viel Zeit von den Sparern ergaunert haben, die sie, die Sparer, für sich und ihre Freunde hätten verwenden können. Die grauen Herren rauchen Zigarren, die aus getrockneten Stunden-Blumen, der Zeit der Sparer, hergestellt sind. Sie verbreiten damit eine graue Farblosigkeit. Und sie wollen alle Zeit der Welt haben. Doch Momo und ihre Freunde finden das Lager, mit den Stundenblumen und öffnen es. Die Stundenblumen fliegen zu ihren ursprünglichen Besitzern, die plötzlich wieder Zeit für einander haben. Und da die grauen Herren nichts mehr zu rauchen haben, lösen sie sich in nichts aus – und alles ist wieder gut.

Vordergründig geht es um die verlorene Zeit, die wir, als Angestellte, mit ordentlicher Arbeit für eine Firma verbringen müssen. Durch Selbstausbeutung können wir freilich auch ordentlich Zeit verlieren. Im Hintergrund aber geht es – mit dem Motto, Zeit ist Geld –, um Geld und Zinsen. Das hat Michael Ende selbst einem Leser geschrieben, der eben dies vermutet hatte. Ende: "Sie sind der einzige, der das entdeckt hat…". Dazu ein kleines Beispiel von mir, Ihrem Autor: Ich bekomme heute (2015) für mein erspartes Geld auf meinem Sparkonto von der Bank 1,5 Prozent Zinsen. Wenn ich mein Girokonto überziehe, muss ich für die überzogene Summe 12 Prozent Zinsen zahlen. Das sagt doch einiges. Oder? Ende dachte allerdings an globalere Probleme und Lösungen. (siehe im Internet: "Geld ohne Zinsen und Inflation", das "Wunder von Wörgl" etc.) Wenigstens nachdenken über andere – sogar erprobte – Möglichkeiten sollte man dürfen.

Noch einmal Michael Ende und die "Unendliche Geschichte" (1979): Der etwa 12 Jahre junge, dickliche Bastian, der viel gehänselt wird, flüchtet sich gern und oft aus dieser in andere Welten. In einem Antiquariat findet er das Buch "Die unendliche Geschichte" und lässt es kurzerhand mitgehen. Es handelt vom Reich Phantasián, das in großer Not ist. Seine Kindliche Kaiserin ist sterbenskrank. Und sollte sie sterben, würde sich das Reich in Nichts aufzulösen. Außer, ein Junge aus dieser, unserer, Welt findet den neuen Namen, den die Kaiserin für ihre Gesundung und für das Land braucht. Je weiter Bastian liest, umso sicherer ist er, dass er selbst Phantasián helfen muss. Und auch will. Und kann.
Schnell findet er ihren neuen Namen und rettet damit beide: die Kaiserin und das Land. Dann, als Bastian aus Phantasián wieder nachhause, zu Eltern und Schule kommt, hänselt ihn niemand mehr.

Die Personen und die Inhalte: Den gehänselten Jungen kennen wir aus alten Märchen; auch den, der in die Fremde flüchtet. Auch die Erkrankte Kaiserin, Königin, Mutter, Großmutter, für die ein Kraut gesucht und gefunden muss, ist nicht neu. Auch im "Rumpelstilzchen" wird ein Namen gesucht, aber das hat bei Ende eine andere Bedeutung, wenn ich es richtig deute.
Bei ihm, Ende, ist "Nomen (wirklich) Omen". Und ein neuer Name der Jugendlichen Kaiserin kann eine neue Zeit für ihr Phantasieland bedeuten. Wichtig für mich ist, nach den vielen männer-beherrschten alten arabischen Märchen, dass hier eine jugendliche und sanfte Herrscherin auf dem Thron sitzt. Zudem ist das Märchen schön erzählt, schön dick, hervorragend für Bücherwürmer geeignet, und mag vielen – heutigen – dicklichen Jungen helfen, ihre Träume und Fähigkeiten zu erkennen und für sie mutig einzustehen.

Weiter zum Kapitel 6, Fantasy und Science Fiction.

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