9, Das Unverständnis. Und das Glück, einen
Text zu "knacken";

Kafka & Adorno und das Nichtverstehen; Dalí, Bunuel und "Der andalusische Hund"; der Intellekt gibt nicht auf, er möchte das Unverständliche verstehen und tut auch etwas dafür.

Wie wunderbar, wenn der eigene Geist einen gute Anker hat, der ihm hilft, im Meer einer Erzählung die höhere Realität zu erkennen. Viele haben einen derartigen Anker nicht: Meine Schwägerin, sagte mir, nachdem sie im Radio meine Erzählung über den vergoldeten und automatisierten Bildhauer gehört hatte, eben dieses Wort: "Wunderbar! Ich habe, außer "ja" und "nein", zwar nichts verstanden. Aber es war so schön!" Die zweifellos kluge Frau hat Jahrzehnte lang erfolgreich eine mittelständische Maschinenfabrik geleitet. Aber ihr Denken war von Zahlen und Fakten beherrscht. So bleibt das Suchen nach und das Finden von geistigen Aussagen und gehobenen Realitäten eines Textes ein elitäres Spiel. Ich denke, das ist gut so – es sei denn: Ich verstehe einen Text nicht.

Nehmen Sie Kafka. In seiner Erzählung "Die Verwandlung" schildert er das Schicksal eines fahrenden Stoffe-Vertreters, Gregor Samsa, der eines Morgens als ein Käfer aufwacht. Die Wohnung schmutzig, draußen ist es grau, Regen tröpfelt. Kafka beschreibt den verwandelten Körper und Schwierigkeiten, die diese Verwandlung mit sich bringen, minuziös, ohne Mitgefühl. Ebenso die Diskussionen (Gregor kann sprechen) mit seiner Mutter, Schwester und mit seinem Vorgesetzten. Und seinen Unfall: Er wird von einer Doppeltür in der Wohnung gequetscht, beinahe zerquetscht, bis ihn sein Vater mit einem Fußtritt befreit. So entstellt lebt Gregor Samsa noch eine Weile in der öden Wohnung mit seiner bösen Familie. Er überlebt zum Teil schreckliche, zum Teil peinlich unappetitliche Schicksalsschläge, bis er endlich stirbt.
Als Kafka diese Geschichte seinen Freunden vorlas, sollen die sich schief gelacht haben. Was waren das nur für Menschen? Und wenn ich im Internet die Interpretationsversuche für die Abiturklasse lese:
"Der Autor mischt Komisches mit Tragischem", bin ich entsetzt. Ich finde in dieser Verwandlung keinen Sinn. Da tröstet mich Adorno mit dem Satz: "Kafka ist nicht zu knacken." Immerhin kann ich mich erinnern, dass als ich als Gymnasiast "Die Verwandlung" in der Schule lesen musste. Anschließend dachte ich, wie schön es wäre, wenn meine Tante Ilonka (die mit dem schwarzen Kater) noch leben würde. Sie konnte nämlich Teemischungen gegen alle Unbilden des Daseins brauen: Vielleicht sogar eine gegen Verwandlungen in Käfer und eine andere gegen Kafka.
Auch Der Prozess ist und bleibt mir unverständlich – nur etwas anders. (Zu lesen: www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/veranstaltungen/vorlesungen/20JhdtLiteratur...).
Der Bankangestellte Josef K. wird an seinem 30. Geburtstag verhaftet, aber doch nicht ganz. Er bleibt auf freiem Fuß und erfährt nie, was gegen ihn vorliegt. Die anschließenden Verhöre finden sonntags in dubiosen Dachstuben statt. Josef K. versucht seine Verteidigung zu organisieren. Doch am Vorabend seines 31. Geburtstages wird er von zwei Männern abgeholt und umgebracht: "Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn (und dann auch noch eines ‚Herren'!), während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort umdrehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange, aneinander gelehnt die Entscheidung beobachteten. ‚Wie ein Hund!' sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben."
Soweit die Kurzfassung von "Der Prozess".
Schließlich frage ich mich, einerseits: Muss man jeden Text, etwa künstlerischen Prosatext, verstehen? Muss man irgendeinen Sinn in jeder Erzählung finden können?
Andererseits, zeigt die Flut der Beiträge über Kafka, und seine Interpretationen, dass Leser, zumal intellektuelle, gern verquicktes, phantastisches lesen und es auch gern "knacken".
Und schließlich wissen wir, dass verwegene Künstler eben diesen Wunsch ausnutzen und Werke schaffen, die man nicht "knacken" können soll.
So haben sich der spanische Maler Salvador Dalí und der spanische Regisseur Louis Bunuel, lange nachgedacht und schwer gearbeitet, bis ihr film "Der andalusische Hund" – frei von jeglichem Sinn und Verstand – abgedreht war. Die Kritik war einhellig der Meinung, das Vorhaben sei glänzend gelungen.

Doch der Intellekt gibt nicht auf:
Denn er, von lateinisch "intellectus", mit den Bedeutungen "Erkenntnisvermögen", "Einsicht", "Verstand" – er ist das Verstehen selbst. So liebt er zwar das Raten. Wenn er aber endgültig keinen Sinn findet, konstruiert er – zumindest der Intellekt der meisten Menschen – etwas halbwegs Verständliches für sich. Deshalb schätze ich Adornos Ausspruch so sehr: "Kafka ist nicht zu knacken."

Abschließende Worte kurz vor Schluss: Das Phantastische und das Realistische sind nur scheinbare Gegensätze. Sie ergänzen einander. Das Realistische ist eine (möglichst wahre) Nachricht, dezidierte Beschreibung – wichtig als Fundament des Phantastischen und Quelle der Inhalte, Aussagen, Botschaften. Denn wir können nichts denken, was nicht vom realen Leben abgeschaut wäre. Nichts kann man nicht denken. Das Phantastische ist eine Improvisation des Realistischen, geschmückt mit Überraschungen, bunten Kostümen, Scheinwerfer, Witz und Rhythmus. Sie helfen, das Unsagbare hinter dem Realistischen zu erahnen – Inhalte, für beinahe jeden Leser andere.

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